Montag, 28. Januar 2013

Das N-Wort

Vorerst möchte ich präventiv um Entschuldigung bitten, falls ich aufgrund eigener Privilegien das ein oder andere Fettnäpfchen übersehen haben sollte. Bevor ich daraufhin fettige Fußabdrücke überall in meinem Blog verteile, würde ich mich über konstruktives Feedback freuen.

Das N-Wort soll aus Kinderbüchern gestrichen werden! Welch eine Verarmung der deutschen Kultur! Und überhaupt war das Wort früher ja sowas von neutral!

Wenn man mit "neutral" meint, dass man damals noch keinen gesellschaftlichen Widerstand gegen die Verwendung rassistischer Sprache erfahren hat, dann mag das sogar stimmen. Andernfalls... nun, ganz einfache Frage zur Überprüfung der Neutralität des Begriffs: Stand das N-Wort jemals für "gleichwertiger Mitmensch mit dunklerer Hautfarbe"? Wann? Zu Zeiten des Kolonialismus? Als man es aufgrund der vermeintlichen Minderwertigkeit anderer "Rassen" gerechtfertigt hielt, Schwarze als Sklaven zu halten?

Ich glaube, die Verwirrung um die vermeintliche Neutralität geht viel tiefer. Wenn jemand nämlich ganz selbstverständlich sagt, "Und dann hat mich ein Schwarzer angesprochen und nach dem Weg gefragt", hat man sich am Ausgrenzen bereits beteiligt, weil man eine Unterscheidung getroffen hat, die in dem Moment keinerlei Relevanz besaß.
Warum ist die Hautfarbe überhaupt von situationsunabhängiger Relevanz? Warum ist ein Mensch, der etliche Eigenschaft vereint, also... naja, eben ein Mensch ist... überhaupt primär schwarz, braun, asiatisch ("gelb" sagt ja zum Glück kaum mehr wer)? 
Hier mal ein Tipp: Barack Obama ist ein dunkelhäutiger Präsident in Kontrast zu der langen Geschichte weißer Präsidentschaft in den USA. Davon ab ist er einfach nur Präsident der vereinigten Staaten. Punkt.
Wenn ich sprachliche Unterschiede mache, die gerade überhaupt keine Relevanz haben, dann mache ich den Unterschied seiner selbst willen. Ich grenze ab. Abgrenzung + white privilege (Link enthält eine Checkliste) = Konservierung von Rassismus. So schnell geht das. Denn durch die Abgrenzung halten wir die Unterscheidung am Leben, die Rassisten brauchen, um aus einem Unterschied eine Wertung zu konstruieren.

Das bedeutet nicht, dass es keinen Unterschied zwischen dunkler und heller Haut gäbe. (Das wäre ja auch eine lächerliche Behauptung.) Aber es gibt unzählige Unterschiede zwischen Menschen und die meisten davon machen aber keinen Unterschied und wir machen aus ihnen keinen Unterschied. Wie Schuhgröße. Oder Augenfarbe. Oder ob die Haare glatt oder gewellt sind. Ob die Stimme tief oder hell ist.
Ich will damit Minderheiten nicht ihr Recht auf eine eigene Identität absprechen - wenn Unterscheidungen schon vorherrschen, ist es vermutlich essenziell für die betroffenen Minderheiten, sich durch eine eigene Identität von den Fremdzuschreibungen der Privilegierten zu emanzipieren. 
Natürlich gibt es außerdem statistische Unterschiede aufgrund der gemeinsamen Abstammung innerhalb der Gruppen. Wie z.B. die Laktosetoleranz, die vorwiegend auf der nördlichen Halbkugel anzutreffen ist. Aber nun sind solche Unterschiede ja doch im Alltag vollkommen irrelevant und treffen auch nicht auf jedes Mitglied einer definierten Gruppe zu.

Es gibt auch analoge Beispiele aus nicht-rassistischen Kontexten. "Blondinen" zum Beispiel.
Auch hier haben wir ein oberflächliches Merkmal, dessen Bedeutung überhöht wird, indem es zum Sammelbegriff für Menschen erhoben wird. Und auch hier wirkt die Unterscheidung gleich als Ansatzpunkt von Abwertung, wie Blondinenwitze zeigen. Und auch hier wirken diese Vorurteile auf die Betroffenen, wie dieses Experiment gezeigt hat.
Blondinen werden dadurch aber nicht zu "Fremden" gemacht, sie genießen also auch white privilege. Sie sind punktuell diskriminiert, wo sie mit ihrem Klischee konfrontiert werden, aber sie sind nicht "die Anderen", sie sind nur eine andere Spielart von "uns".

Letztendlich liegt das Problem beim Rassismus genau bei diesem "Wir".
Warum ist ein in Deutschland sozialisierter dunkelhäutiger Mensch mir "fremder" als ein hellhäutiger? Oder gar als ein hellhäutiger Franzose? Ganz klar: Ist er/sie nicht.
Es ist ein essenzialistisches Denken, in dem Menschen aufgrund oberflächlicher Merkmale in "Abstammungslinien" eingeordnet werden und woraus ein "wir" und mehrere "ihr" ersponnen werden. Es wird also eine Essenz von Rasse konstruiert . Und danach unterschieden. So viel zur Frage ob das N-Wort rassistisch sei.

Ich weiß nicht, ob ich damit zu einer Minderheit gehöre, aber ich weiß noch, wie ich damals die "Negerlein" in Kinderbüchern erlebt habe:
Weiße Kinder hatten Namen, eine Familie, Hobbies und waren Helden ihrer eigenen Geschichte. "Negerlein", das war eine Gruppe passiver Figürchen, mit denen etwas passierte, die aber selten aktiv ihr Leben gestaltet haben.
Ich habe diese Unterscheidung verstanden. Ich habe nicht verstanden, warum sie gemacht wurde, warum nur weiße Kinder eigene Geschichten hatten, aber dass dem so war, das habe ich erkannt.
Und über zwei Jahrzehnte später muss ich immer noch unbewusste Unterscheidungen aufarbeiten, die mir als Mittel der Erzählung meiner eigenen Geschichte quasi in die Wiege gelegt worden sind.
Das würde ich Kindern, wenn ich welche hätte, nicht aufbürden wollen.
Und wie tief diese frühkindlichen Erlebnisse erst bei direkt Betroffenen gehen müssen, kann ich selbst noch nicht einmal ermessen.

Die Frage ist nun: Wollen wir weiterhin an unserem weißen Privileg festhalten, Anderen unsere Gruppenzuschreibungen überzustülpen um diese dann mit den Konsequenzen leben zu lassen? Haben wir das Recht dazu, die Deutungshoheit über Gruppen von Menschen an uns zu reißen, auch wenn wir dadurch ihre Chancen im Leben beeinflussen?
Pfui, ihr N-Wort-Beschützer! Dass euch ein Wort, das euch selbst nicht betrifft wichtiger ist, als die Konsequenzen für die, die es betrifft! Heuchler!

P.s.: Und nein, das Umwerten eines negativ behafteten Wortes zu etwas Neutralem oder gar Positivem ist nicht Sache der Privilegierten! Wenn ihr Minderheiten neutral ansprechen wollt, dann fragt die Minderheiten, wie sie angesprochen werden möchten!


Weil meine Sicht als "Weiße" nicht frei von Privilegien ist, hier zwei Link-Tipps:


Sonntag, 27. Januar 2013

#Aufschrei und Elevatorgate

Im Sommer 2011 stand die skeptische Internet-Community in Flammen. Eine berühmte Bloggerin (Rebecca Watson) hatte eine "creepige" Grenzüberschreitung seitens eines Mannes thematisiert und - wie konnte sie nur? - kommentiert. Hintergrund war, dass ihr jemand auf einer Skeptiker-Konferenz spät nachts in den Aufzug gefolgt ist, um sie dort anzugraben. "Guys, don't do that!" sagte sie.
Daraufhin brach ein Shitstorm über sie und feministische Skeptikerinnen ein. Der Vorfall wurde von vielen Männern herunter gespielt, die unter Frauen weit verbreiteten Vorbehalte gegen fremde Männer, die einem in geschlossene Räume folgen, als irrational dargestellt und allein die Thematisierung solcher Erlebnisse wurde aggressiv attackiert - einige Bloggerinnen erhielten sogar Vergewaltigungsdrohungen.

Damals fehlte es an Verständnis dafür, was Rebecca Watsons Perspektive geprägt hat. Und ehrlich gesagt, ist auch mir erst in den letzten Tagen einiges darüber klarer geworden.
Der #Aufschrei,, nämlich, der aktuell durch Twitter geht, könnte ein Bindeglied zwischen dem "Elevatorgate" und dem vielfach geleugneten Alltagssexismus darstellen, denn der #Aufschrei zeigt - nicht nur Männern - woher genau die "weibliche" Angst vor (manchen) Männern stammt.
War zuvor "Schrödingers Vergewaltiger" ein Begriff, der die skeptische Community erst recht spaltete, wird dieser mit dem Hintergrund der #Aufschrei-Anekdoten vielleicht verständlicher.
Nein, nicht alle Männer sind "potenzielle Vergewaltiger", aber Vergewaltigungen existieren nicht im Vakuum. Die Entscheidung, ob einem Konsens wichtig ist, fällt nämlich schon viel früher: Wenn man einer Frau auf den Busen starrt (nicht "guckt"), wenn man Frauen unverschämt angräbt und sie anschließend für abweisendes Verhalten mit Beleidigungen versieht, wenn man Frauen begrabscht, ihnen folgt, kurz: Wenn man ihr Einverständnis für irrelevant hält.
Zum Glück wird nur eine Minderheit von Frauen tatsächlich Opfer von sexueller Gewalt (aber noch immer erschreckend viele). Aber was so ziemlich jede Frau mehr oder weniger alltäglich erlebt, ist eine weit verbreitete Grundhaltung, subtile sexuelle Macht über Frauen sei salonfähig. Und es ist irrelevant, ob wir uns dabei unwohl oder gar unsicher fühlen.
An dieser Stelle wird aber der Konsens verletzt. Und ist er erst einmal verletzt, dann wird der Mann für uns zu "Schrödingers Vergewaltiger" - wir wissen nicht, wo und ob er eine Grenze hat, ab der er ein "Nein" akzeptiert.
Jemand, der einem in den Aufzug folgt, verhindert, dass man sich ihm entziehen kann. Das war die Grenzüberschreitung des Elevator Guys, von dem Rebecca Watson berichtete. An der Stelle wurde ihre Verhaltensauswahl gezielt eingeschränkt, um die eigenen Interessen verfolgen zu können.

#Aufschrei zeigt aber noch mehr. Gerade die Männer, die #Aufschei attackieren bestätigen, wie nötig dieser ist. Besonders zynisch sind Äußerungen, Frauen sollten sich lieber wehren, anstatt einen #Aufschrei zu veranstalten.
Ja, wie viel Rückhalt hat wohl eine Frau in einer Gesellschaft, in der sexuelle Übergriffe noch nicht einmal angesprochen werden sollen? Wird sie unterstützt werden, wenn ihre offensive Art erst recht Konsequenzen nach sich zieht?
Wer nichts von sexuellen Übergriffen hören will, will es auch nicht sehen und wird erst recht nicht helfen.
Und dass uns vermutlich niemand helfen würde, haben "wir"schon unser ganzes Leben lang signalisiert bekommen. Wenn Vergewaltigungswitze akzeptiert werden, wenn übergriffige Männer in Schutz genommen werden, weil sie der Bro von irgend jemandem sind oder wenn wir, wenn wir sexuelle Übergriffe denn mal thematisieren, gefragt werden, was wir getragen, wie wir uns verhalten und wo wir uns aufgehalten haben. Man signalisiert Frauen ihr ganzes Leben lang, dass sie für ihre Sicherheit selbst zu sorgen haben, weil im Zweifelsfall der Täter mehr Rückhalt erfahren wird als das Opfer. Und thematisieren Frauen solche Zustände mal, werden sie nicht selten übelst bedroht.
"Wehrt euch einfach" ist daher purer Hohn. Denn wer an einer echten Lösung interessiert ist, ist auch am Problem interessiert und bemüht sich nicht darum, es wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen. Zumal sich frau nicht richtig verhalten kann. Man weiß nämlich nicht, ob sich jemand, der sexuelle Macht ausüben möchte, von dem kurzen Rock oder einem langen Rock provoziert fühlt - denn es geht ihm ja eben nicht darum, ob sie sich ihm sexuell verfügbar zeigt. Man weiß in ähnlicher Weise auch nicht, ob sich ein Mann von defensivem oder offensivem Verhalten provoziert fühlt.

Es gibt nur drei Möglichkeiten für uns als Gesellschaft: Entweder, wir halten an unserer Rape Culture mit Victim Blaming (dazu gehört auch "wehrt euch doch!"), die nur die Täter schützt, fest oder wir ändern etwas. Entweder indem Männer Frauen in diesen Belangen endlich zuhören, die Probleme erkennen und sexuelle Übergriffe endlich ernst nehmen, oder indem Frauen sich tatsächlich "wehren". Dann aber werden sie sich auch gegen alle "Wehrt euch doch"- und "Stellt euch nicht so an!"-Typen wehren.

Ich würde die zweite Lösung vorziehen. Zumal auch viele Männer darunter leiden, dass Sexisten eine so große Macht über weibliches Verhalten haben dürfen: Welcher (nicht-sexistische) Mann möchte denn schon, dass Frauen nachts Angst vor ihm bekommen, wenn diese allein unterwegs sind. Welcher Mann  ist nicht davon betroffen, dass Frauen sich kaum trauen, fremde Männer anzulächeln? Haben sich nicht schon genug Männer darüber gestört, dass sie eine unbekannte Frau nur schwer "einfach so" (auf ein Buch, das sie liest oder ein Shirt, das sie trägt, z.B.) ansprechen können, weil sie nicht wie einer von "denen" wirken möchten?
Es sind nicht die vielen Frauen, die durch den #Aufschrei das Verhältnis der Geschlechter verkomplizieren, es sind die Creeps, die das Problem sind.

Freitag, 18. Januar 2013

Fake Geek Girls


Sie schleichen sich auf deine Dragoncon. Sie kleiden sich sexy oder tragen T-Shirts mit Geek-Motiven. Sie tun das alles nur, um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Sie wissen zu wenig über Firefly. Oder Misstrauen erregend viel. Böse, weibliche Fake Geek Girls.

Kaffeeklatsch mit R2D2. Nur eines von vielen Verbrechen des Fake Geek Girls.


Fake Geek Girls: Ein Mem, ein Mythos, ein Fall von Othering.

Man könnte diesen Aberglauben natürlich einfach mit einem Lachen abtun, das signalisiert "Was willst du unsicherer Geek Boy eigentlich von mir?". Für viele Mädchen und Frauen aus der Szene ist das aber nicht so einfach. Und es würde auch nichts ändern.
Dabei haben es Frauen/Mädchen ohnehin oft schwerer, den Einstieg zu finden: Da weniger weibliche Geeks existieren, haben Mädchen und Frauen auch weniger Vorbilder, die ihnen den Weg zeigen können. Aber diese Einstiegshürde wird oft überwunden, immerhin ist das schöne am Geek Sein, dass es intrinsisch belohnend ist: Man beschäftigt sich mit Leidenschaft XYZ der Leidenschaft XYZ willen.
Die nächste Hürde ist, dass weibliche Geeks nicht so leicht eine eigene Peergroup finden, in der man sich gegenseitig bestärkt.

Und diese zweite Hürde, das ist nicht nur der Mangel an Geeks weiblichen Geschlechts in der Szene. Diese zweite Hürde, das ist auch der unsichere männliche Geek. Der Geek, der einen neuen männlichen Geek mit offenen Armen empfängt, aber einen neuen weiblichen Geek (und auch alteingesessene) erst auf Herz und Nieren prüft. Der einen weiblichen Geek auf einer Convention für die Begleitung eines "echten" Geeks hält. Kurz: Der sich eine Deutungshoheit darüber zuspricht, was "echtes" Geektum ausmacht.


Lieber unsicherer männlicher Geek,

Du tust der Szene keinen Gefallen. Nicht nur, dass du andere Geeks ausgrenzt und in ihren Gefühlen verletzt, du verletzt auch einen der wichtigsten Werte des Geektums. Geeks, das sind Menschen, die von einem Feuer für eine Sache (SciFi, Fantasy, Comics, Videogames,...) entflammt sind. Du wiederum versuchst diesen schönen intrinsischen Wert zu entwerten. Dadurch nämlich, dass du die Definition des Geeks mit Vorurteilen überlädst und dadurch, dass du den Blick auf die Sache an sich durch willkürliche Eigenschaften (vermutlich: männlich, weiß, heterosexuell, eher nicht der Alleinunterhalter-Typ) verstellst.
Unter diesen Mädchen und Frauen, die du kränkst, bin z.B. ich. Als meine Geek-Geschichte begann, hatte ich keine Jungs in meinem Freundeskreis, die ich beeindrucken konnte. Ich war in einer weiblichen Peergroup. Und während alles um mich herum Boy Groups umschwärmte, schwärmte ich für Star Wars und hörte lieber Soundtracks als Pop-Schnulzen. Ich war allein.
Und ich lasse mir diesen Wert, den SciFi und Videogames für mich seit jeher haben, nicht von jemandem schmälern, der aus Unsicherheit Othering betreibt.
Vielleicht, ja nur vielleicht ist jemand, der seine Leidenschaft gegen alle Vorurteile pflegt und der sein Geek-Sein nicht als Werkzeug zur Ausgrenzung missbraucht, sogar ein aufrichtigerer Geek.

All den coolen Geeks, die glücklicherweise den Großteil meiner Erfahrungen prägen, danke ich hingegen an dieser Stelle. Einfach eurer selbst willen wegen. Ich bin vernarrt in euch!

Liebe Grüße
Zernunft

Montag, 14. Januar 2013

Erythrophobie und Bewerbungsdepression

Eigentlich bin ich mit der Person, für die ich mich halte, so ziemlich im Reinen. Das kann man aber zeitweise vergessen, wenn man zwischen zwei Lebensabschnitten steht und man sich auf der Warteliste des Lebens platziert fühlt.
Man definiert sich ja schon nicht gerade unwesentlich darüber, was man tut. Und wenn man sich gerade bewirbt, hat man halt Mühe, sein Selbstbild auf irgend etwas zu projizieren. Anstatt "Studentin mit den und den Eigenschaften" bin ich jetzt halt eine lose Sammlung von Eigenschaften, die zerstreut in meinem Hinterstübchen herum liegen und irgendwie keinen Sinn mehr ergeben wollen.

Also hangel ich mich von einem Tag zum nächsten. Und dabei denke ich manchmal daran zurück, wie mich das Leben bisher geprägt hat.
Ein wesentlicher Einschnitt in meiner Entwicklung war sicher die Erythrophobie.
Erythrophobie - das ist die Angst vorm Erröten.

Ich war ein glückliches, selbstbewusstes Kind. Sicherlich war ich relativ schüchtern, aber ich nahm das Leben mit diesem selbstverständlichen Vertrauen, das wohl viele der Kinder haben, die aus einem liebevollen, finanziell abgesicherten Elternhaus kommen. Und ich war das kluge Töchterchen. Und die Lieblingsschülerin meiner Klassenlehrerin.
All das änderte sich schlagartig, als ich auf das Gymnasium wechselte. Ich war eingeschüchtert von den vielen Klassenkameraden und von dem Gedanken, meine "Klugheit" von nun an beweisen zu müssen.
An dieser Stelle folgt ein wichtiger Einschub:

Ich glaube nicht an Intelligenz. Intelligenz ist nicht schlüssig definiert und ist meines Erachtens nichts weiter als ein bequemer Sammelbegriff. Unser Gehirn ist hoch plastisch und hoch flexibel. Woran macht man fest, welche kognitiven Fähigkeiten nun "intelligent" sind und welche es nicht sind? Am Erfolg in der Gesellschaft? Daran also, welche Eigenschaften Privilegierte besitzen? Noch jemand hier, der einen Zirkelschluss riecht? "Erfolgreich sind jene, die die Eigenschaften der Erfolgreichen besitzen."
Das wäre vor nicht langer Zeit "weiß, männlich, cis, gebildet" gewesen. Und irgendwie wird der Intelligenz-Begriff ja auch seit jeher dazu missbraucht(?) zu erklären, warum es Minderheiten oder auch einfach Frauen schwerer haben, erfolgreich zu sein. So so.... (Blogger "Tim" zu Imposter Syndrome und Intelligenz (englisch): Lang, aber lesenswert!)

Vor dem Wechsel auf die weiterführende Schule war mein Selbstverständnis als "kluges Mädchen" unangefochten. Ich war erfolgreich in der Schule, also muss ich intelligent sein. Nun aber saß ich ja nur noch mit Schülern in einer Klasse, die auch alle bisher erfolgreich in der Schule gewesen waren. Würde ich nun versagen? Was würde das über meine Intelligenz aussagen? Worauf wären meine Eltern dann noch stolz? Wodurch würde ich dann noch heraus ragen?
Da Intelligenz nicht definiert ist, verstehen "kluge Kinder" nicht, was sie besonders macht. Sie brauchen in bestimmten Dingen weniger Übung oder haben schneller den richtigen Einfall in der Klasse. Es ist aber nie selbstevident, sondern immer nur durch den Vergleich mit Anderen offenbar. Vielleicht war meine "Klugheit" nichts weiter als ein bestimmtes Interesse an Dingen, die in der Schule wichtig waren? Vielleicht hatte ich einen Vorsprung, weil ich sehr wissbegierig war und weil meine Eltern meine Neugierde gestärkt haben. Vielleicht ist all das, was angeblich eine Art schwammiges angeborenes"Talent" sein soll, nichts weiter, als eine erlernte und später bestärkte Art, Informationen zu verarbeiten? Vielleicht wird "Intelligenz" zur self fullfilling prophecy.
Diese Zweifel am System kannte ich in dem Alter natürlich noch nicht. Also zweifelte ich anstatt dessen an mir, hatte Angst zu versagen und wurde unsicher. Dazu kam meine Schüchternheit und sicherlich auch die Pubertät, die mit einer Veränderung des Selbstverständnisses verbunden ist.
Es geschah dann recht bald, dass ich vor Aufregung errötete, sobald ich angesprochen wurde. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich in den Teufelskreis der Erythrophobie gekommen bin. Für gewöhnlich sind es harmlose Kommentare zur Gesichtsfarbe. Man fühlt sich bloßgestellt, hat das Gefühl, sein Innerstes würde öffentlich zur Schau gestellt werden. Man schämt sich. Und man hat Angst, dass es wieder geschieht. Weswegen das erste, woran man denkt, wenn man angesprochen wird, das Erröten ist. Weswegen man errötet.
Die Angst vor dieser Spirale aus Scham und Rückzug führt zum Kontrollverlust. Die Angst, vor der Klasse zu erröten, wurde so groß, dass ich am mündlichen Unterricht kaum teilnahm. Das verschlechterte meine Noten und das Imposter Syndrom - die Zweifel an meinen Fähigkeiten - wurde schlimmer.
Die mündliche Teilnahme wurde das, "was ich halt nicht kann". Schriftliche Noten wurden zur persönlichen Bewährungsprobe, dass ich "doch noch was kann". Dieses gekränkte Selbstverständnis sollte meinen Bildungsweg noch lange prägen.

Glücklicherweise endete mein Problem mit der Erythrophobie bereits nach wenigen Jahren. In einer Jugendzeitschrift las ich einen Erfahrungsbericht, laut dem ein Mädchen über das Erröten hinweg gekommen war, indem es gelernt hatte, es zu ignorieren.
Doch bevor es besser wurde, musste es erst noch schlimmer werden. Ich weiß noch, wie ich mich mit einer Klassenkameradin und einem Klassenkameraden (der auch noch ein Verehrer von mir war) unterhielt und ich mich endlich nicht wegdrehte oder den Kopf senkte, als die verhasste Hitze in meinen Kopf stieg. Ich konnte spüren, wie mein Gesicht immer heißer wurde und ich schämte mich. Aber ich würde mich diesmal auf das Gespräch konzentrieren! Ich würde diesmal weiter sprechen, weiter lachen!
Und es trat der worst case auf: Der Junge, der auf mich stand, bemerkte: "Mann, bist du rot!"
Und ich lachte und sagte so etwas wie "Ich weiß!"
An diesem Tag besiegte ich die Erythrophobie.

Leider war der Schaden schon entstanden. Ich würde niemals mehr stark im mündlichen Unterricht werden und würde dadurch verinnerlichen, nichts Wichtiges zu sagen zu haben.


Wenn ich mich heute mit einem Lebenslauf bewerbe, der auf eine verlängerte Studienzeit schließen lässt und in dem keine schmucken Dinge wie Auslandssemester oder gesellschaftliches Engagement zu verzeichnen ist, dann fällt es mir zunehmend schwer, mich nicht danach zu bewerten, wie mittelmäßig ich wirken muss.
Es gibt eben keine Noten oder Auszeichnungen dafür, sich selbst überwinden zu müssen.
Aber das habe ich doch wohl getan, wenn ich, mit dieser Vorgeschichte, in der mündlichen Zoologie-Prüfung als "selbstsicher" bezeichnet werde. Wenn ich auf der Hochzeit meines Bruders die Einzige bin, die eine Rede hält. Wenn ich trotz meiner Angst, Englisch zu sprechen, kurzfristig den TOEFL-Test mache. Und die Angst, englisch zu sprechen, damit überwinde. Ich hab vielleicht länger gebraucht, aber mein Weg war ja auch länger.
Ich bin weit gekommen.