Man definiert sich ja schon nicht gerade unwesentlich darüber, was man tut. Und wenn man sich gerade bewirbt, hat man halt Mühe, sein Selbstbild auf irgend etwas zu projizieren. Anstatt "Studentin mit den und den Eigenschaften" bin ich jetzt halt eine lose Sammlung von Eigenschaften, die zerstreut in meinem Hinterstübchen herum liegen und irgendwie keinen Sinn mehr ergeben wollen.
Also hangel ich mich von einem Tag zum nächsten. Und dabei denke ich manchmal daran zurück, wie mich das Leben bisher geprägt hat.
Ein wesentlicher Einschnitt in meiner Entwicklung war sicher die Erythrophobie.
Erythrophobie - das ist die Angst vorm Erröten.
Ich war ein glückliches, selbstbewusstes Kind. Sicherlich war ich relativ schüchtern, aber ich nahm das Leben mit diesem selbstverständlichen Vertrauen, das wohl viele der Kinder haben, die aus einem liebevollen, finanziell abgesicherten Elternhaus kommen. Und ich war das kluge Töchterchen. Und die Lieblingsschülerin meiner Klassenlehrerin.
All das änderte sich schlagartig, als ich auf das Gymnasium wechselte. Ich war eingeschüchtert von den vielen Klassenkameraden und von dem Gedanken, meine "Klugheit" von nun an beweisen zu müssen.
An dieser Stelle folgt ein wichtiger Einschub:
Ich glaube nicht an Intelligenz. Intelligenz ist nicht schlüssig definiert und ist meines Erachtens nichts weiter als ein bequemer Sammelbegriff. Unser Gehirn ist hoch plastisch und hoch flexibel. Woran macht man fest, welche kognitiven Fähigkeiten nun "intelligent" sind und welche es nicht sind? Am Erfolg in der Gesellschaft? Daran also, welche Eigenschaften Privilegierte besitzen? Noch jemand hier, der einen Zirkelschluss riecht? "Erfolgreich sind jene, die die Eigenschaften der Erfolgreichen besitzen."
Das wäre vor nicht langer Zeit "weiß, männlich, cis, gebildet" gewesen. Und irgendwie wird der Intelligenz-Begriff ja auch seit jeher dazu missbraucht(?) zu erklären, warum es Minderheiten oder auch einfach Frauen schwerer haben, erfolgreich zu sein. So so.... (Blogger "Tim" zu Imposter Syndrome und Intelligenz (englisch): Lang, aber lesenswert!)
Vor dem Wechsel auf die weiterführende Schule war mein Selbstverständnis als "kluges Mädchen" unangefochten. Ich war erfolgreich in der Schule, also muss ich intelligent sein. Nun aber saß ich ja nur noch mit Schülern in einer Klasse, die auch alle bisher erfolgreich in der Schule gewesen waren. Würde ich nun versagen? Was würde das über meine Intelligenz aussagen? Worauf wären meine Eltern dann noch stolz? Wodurch würde ich dann noch heraus ragen?
Da Intelligenz nicht definiert ist, verstehen "kluge Kinder" nicht, was sie besonders macht. Sie brauchen in bestimmten Dingen weniger Übung oder haben schneller den richtigen Einfall in der Klasse. Es ist aber nie selbstevident, sondern immer nur durch den Vergleich mit Anderen offenbar. Vielleicht war meine "Klugheit" nichts weiter als ein bestimmtes Interesse an Dingen, die in der Schule wichtig waren? Vielleicht hatte ich einen Vorsprung, weil ich sehr wissbegierig war und weil meine Eltern meine Neugierde gestärkt haben. Vielleicht ist all das, was angeblich eine Art schwammiges angeborenes"Talent" sein soll, nichts weiter, als eine erlernte und später bestärkte Art, Informationen zu verarbeiten? Vielleicht wird "Intelligenz" zur self fullfilling prophecy.
Diese Zweifel am System kannte ich in dem Alter natürlich noch nicht. Also zweifelte ich anstatt dessen an mir, hatte Angst zu versagen und wurde unsicher. Dazu kam meine Schüchternheit und sicherlich auch die Pubertät, die mit einer Veränderung des Selbstverständnisses verbunden ist.
Es geschah dann recht bald, dass ich vor Aufregung errötete, sobald ich angesprochen wurde. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich in den Teufelskreis der Erythrophobie gekommen bin. Für gewöhnlich sind es harmlose Kommentare zur Gesichtsfarbe. Man fühlt sich bloßgestellt, hat das Gefühl, sein Innerstes würde öffentlich zur Schau gestellt werden. Man schämt sich. Und man hat Angst, dass es wieder geschieht. Weswegen das erste, woran man denkt, wenn man angesprochen wird, das Erröten ist. Weswegen man errötet.
Die Angst vor dieser Spirale aus Scham und Rückzug führt zum Kontrollverlust. Die Angst, vor der Klasse zu erröten, wurde so groß, dass ich am mündlichen Unterricht kaum teilnahm. Das verschlechterte meine Noten und das Imposter Syndrom - die Zweifel an meinen Fähigkeiten - wurde schlimmer.
Die mündliche Teilnahme wurde das, "was ich halt nicht kann". Schriftliche Noten wurden zur persönlichen Bewährungsprobe, dass ich "doch noch was kann". Dieses gekränkte Selbstverständnis sollte meinen Bildungsweg noch lange prägen.
Glücklicherweise endete mein Problem mit der Erythrophobie bereits nach wenigen Jahren. In einer Jugendzeitschrift las ich einen Erfahrungsbericht, laut dem ein Mädchen über das Erröten hinweg gekommen war, indem es gelernt hatte, es zu ignorieren.
Doch bevor es besser wurde, musste es erst noch schlimmer werden. Ich weiß noch, wie ich mich mit einer Klassenkameradin und einem Klassenkameraden (der auch noch ein Verehrer von mir war) unterhielt und ich mich endlich nicht wegdrehte oder den Kopf senkte, als die verhasste Hitze in meinen Kopf stieg. Ich konnte spüren, wie mein Gesicht immer heißer wurde und ich schämte mich. Aber ich würde mich diesmal auf das Gespräch konzentrieren! Ich würde diesmal weiter sprechen, weiter lachen!
Und es trat der worst case auf: Der Junge, der auf mich stand, bemerkte: "Mann, bist du rot!"
Und ich lachte und sagte so etwas wie "Ich weiß!"
An diesem Tag besiegte ich die Erythrophobie.
Leider war der Schaden schon entstanden. Ich würde niemals mehr stark im mündlichen Unterricht werden und würde dadurch verinnerlichen, nichts Wichtiges zu sagen zu haben.
Wenn ich mich heute mit einem Lebenslauf bewerbe, der auf eine verlängerte Studienzeit schließen lässt und in dem keine schmucken Dinge wie Auslandssemester oder gesellschaftliches Engagement zu verzeichnen ist, dann fällt es mir zunehmend schwer, mich nicht danach zu bewerten, wie mittelmäßig ich wirken muss.
Es gibt eben keine Noten oder Auszeichnungen dafür, sich selbst überwinden zu müssen.
Aber das habe ich doch wohl getan, wenn ich, mit dieser Vorgeschichte, in der mündlichen Zoologie-Prüfung als "selbstsicher" bezeichnet werde. Wenn ich auf der Hochzeit meines Bruders die Einzige bin, die eine Rede hält. Wenn ich trotz meiner Angst, Englisch zu sprechen, kurzfristig den TOEFL-Test mache. Und die Angst, englisch zu sprechen, damit überwinde. Ich hab vielleicht länger gebraucht, aber mein Weg war ja auch länger.
Ich bin weit gekommen.
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