Donnerstag, 22. November 2012

Fat Shaming

Wir leben in einer "Leistungsgesellschaft". Das bedeutet zwar noch lange nicht, dass Leistung angemessen entlohnt wird, es bedeutet aber durchaus, dass man Menschen für ihr Schicksal verantwortlich machen darf. Insbesondere, wenn es um ihren Körper geht. Das gehört doch schließlich zur Eigenverantwortung, richtig?

Gesundheit und Aussehen sind sicherlich ein Kapital und eins, um das man sich kümmern kann, vielleicht sogar sollte - im eigenen Interesse.
Eine völlig andere Sache ist es jedoch, diesen Anspruch an sich selbst auf andere zu projizieren. Zwar funktionieren unsere Krankenkassen nach dem Solidaritätsprinzip, der ganz private Kampf um und gegen den eigenen Körper solidarisiert sich dadurch aber nicht. Und die Kosten dieses Kampfs sind sehr unterschiedlich verteilt.
Mit Kosten meine ich in diesem Zusammenhang den Energie- und/oder Kostenaufwand zur Überwindung der Hürden, die uns daran hindern, dem fitten, gesunden und gut aussehendem Ideal zu entsprechen. Und vielfältig sind diese auch: Genetische Prädispositionen, Gewohnheiten, das soziale Umfeld, Stress, Zeitmanagement, Unwissenheit, die persönliche Motivierbarkeit, Verdrängungsmechanismen, Durchhaltevermögen, finanzielle Möglichkeiten...

Es sollte an sich ganz einfach sein: Man kennt nur die eigenen Kosten für ein gesundes Leben und für die Pflege der Eitelkeit. Man kennt nicht die Kosten der anderen. Ein "Wenn ich es kann" bedeutet nicht "kannst du es auch".
Zumal der subjektive Wert, der den Kosten gegenüber steht, ebenfalls individuell ist.

Trotzdem sind adipöse Menschen starker Diskriminierung ausgesetzt. Sie werden weniger zu Bewerbungsgesprächen geladen, man traut ihnen weniger (auch geistig) zu, man macht sich über sie lustig und beleidigt sie und hält sie für ein Problem, das es zu lösen gilt.
Für Betroffene kommt erschwerend hinzu, dass unsere Körper gewissermaßen öffentlich sind: Wir bewegen uns mit ihnen durch den öffentlichen Raum. Im Gegensatz zu Charakterschwächen, die - und seien sie noch so groß - unsichtbar sind, sind unsere Körper für jeden offensichtlich. Also selbst, wenn niemand Fettleibigkeit stärker verachtet als eine sadistische Ader (zum Beispiel gegen Tiere), wird dem Fettleibigen aber insgesamt mehr Verachtung entgegen schlagen.
Gleichzeitig werden Diäten beworben und vermeintliche Erfolge werden zelebriert. Es entsteht eine Erwartungshaltung, als Adipöser es wenigstens zu "versuchen".

"Versuchen" bedeutet in diesem Zusammenhang: Verzichte auf einen wichtigen Teil deiner Lebensqualität, geißel dich, ganz egal, wie hoch deine persönlichen Kosten auch sein mögen. Und wenn es nicht funktioniert, landest du nicht etwa beim Ursprungsgewicht, sondern bei einem neuen, höheren. Das sind dann wohl die "Zinsen" der Kosten, die du nicht zahlen konntest, die dir aber nichts desto trotz aufgezwungen wurden.

Das Gemeine an dem Zwang, der auf Adipöse ausgeübt wird ist, dass er zu Scham führt. Scham aufgrund des Scheiterns an einer Aufgabe, dessen Schwierigkeitsgrad völlig unbekannt ist.

Adipöse sind keine Sünder und Diäten sind keine Ablassbriefe.

Das Pflegen unseres Kapitals kann nur eins bedeuten: Pflege den Körper, den du hast, anstatt zu versuchen, ihn zu etwas umzuformen, das er (aktuell) nicht ist.
Und sollte Gesundheit die größere Sorge sein: Ein genährter Adipöser ist gesünder als ein herunter gehungerter!  Gesunde (oder gesündere) Ernährung ist zwar möglich, sie hat aber mit Diäten nichts zu tun.

Wir sollten den Mut zur Vielfalt haben anstatt in Gehässigkeiten zu verfallen, weil optische Abweichungen öffentlicher sind als charakterliche.

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