Montag, 19. November 2012

Tiere lieben, Tiere essen


Puck war eine türkis farbene Wellensittich-Dame mit zitronengelbem Köpfchen. Ich sympathisierte sehr mit ihr, da sie nie ganz in den Schwarm hinein passte, aber dennoch auf eine fast anmutige Weise das Leben genoss. Die Nacht, bevor sie starb, verbrachte sie bereits in einem Einzelkäfig, um von den anderen nicht gestresst zu werden. Irgend wann, mitten in der Nacht, verschlechterte sich ihr Zustand deutlich und sie fiel laut krakehlend zu Boden. Ich werde dieses Schreien vermutlich niemals vergessen können - genau so wenig wie meine Mutter. Vor Schmerzen schreiende Tiere klingen unheimlich "menschlich", selbst, wenn sie mit uns so entfernt verwandt sind, wie Vögel.

Die Frage, was Leid ist, ist schwierig zu beantworten und wird noch einmal deutlich unhandlicher, wenn man sie in Bezug auf nichtmenschliche Tiere stellt. Empfindungen sind subjektiv - ich weiß nur von meinen mit Sicherheit, dass sie bewusst wahrgenommen werden. Es wäre aber irrational anzunehmen, dass ich das einzige bewusste Lebewesen bin.
Darüber hinaus bin ich jedoch chronisch überfragt. Entstand Bewusstsein graduell und findet sich in etlichen Stufen und Abwandlungen noch heute im Tierreich oder kam Bewusstsein plötzlich hinzu, rekrutierte bereits vorhandene Fähigkeiten und findet sich daher nur in einer sehr berenzten Zahl von Tieren? Könnte Bewusstsein sogar ein rein kulturelles Artefakt einer Subjekt-zentrierten Erziehung sein?

Ich weiß es nicht.Ich wusste es auch damals nicht. Aber ich kannte Puck mit ihren Eigenarten. Ihre Persönlichkeit war für mich so real wie die einer Freundin - auch wenn ich aus Respekt vor den Tieren, die ich ungefragt zu meinen Haustieren gemacht habe, nicht von Freunden spreche (Freundschaften erzwingt man nunmalhalt nicht). Und aus diesem Grund spielte es auch einfach keine Rolle, ob ich eine ausgereifte philosophische Position zur Bewusstseinsfrage hatte oder nicht: Wenn dieser Schrei für bewusst empfundene Schmerzen stand, dann waren diese Schmerzen groß und genau das war es was mir selbst so weh tat.

Obwohl ich also nicht mit Sicherheit sagen kann, wie leidensfähig meine tierischen Mitbewohner sind, gehe ich im konkreten Fall davon aus, dass ihr Leid nicht weniger wiegt, als meins.

Ich habe diese Intuition jedoch lange Zeit als Sentimentalität abgetan, da ich es nicht als ethisches Empfinden verstehen wollte. Ich wusste nämlich um die Gefahr der Einsicht, dass ich, wenn ich mein Verhalten gegenüber den mir nahen Tieren als "ethisch" anerkennen würde, mein Verhalten gegenüber mir unbekannten Tieren automatisch als unethisch bezeichnen müsste.

Dann nämlich, wenn es mal wieder Fleisch gab. Oder Eier. Oder Milchprodukte.

Schaut man sich die Bedingungen der modernen Nutztierhaltung an, dann wird einem klar, dass wir hier, selbst, wenn wir von rein körperlichem Leid sprechen, unsagbar viel Leid gegen unsere Konsumgewohnheiten abzuwägen haben. Da die meisten unserer Nutztiere jedoch soziale und intelligente Tiere sind, kommt zum Unsagbaren noch einiges Unvorstellbares. Ich zumindest kann mir jedenfalls nicht vorstellen, wie es ist, als soziales Wesen zum Kannibalen zu werden, weil die eigene Existenz eine heran gezüchtete Verhaltensstörung ist.

Wir essen viel Fleisch, viele Milchprodukte, viele Eier und wir sind viele. Das macht unzählige Individuen, die wir unseren kulinarischen "Bedürfnissen" unterordnen und denen wir im Zuge dessen ihre basalsten Bedürfnisse absprechen.
Aber wir essen sie von Kindheit an. Wir aßen sie mit kindlicher Unschuld und haben uns nie selbst für diese Essenskultur entschieden. Sie hat sich uns aufgedrängt. Und sie im Nachhinein infrage zu stellen bedeutet, nicht nur sich selbst zu verurteilen, sondern auch unsere sozialen und kulturellen Wurzeln. Somit verharren wir gern in unseren Gewohnheiten.

Gewohnheiten sind nicht böse, aber sie sind ignorant und je mehr es zu ignorieren gibt, umso gefährlicher sind sie.

Es fällt den meisten Menschen leicht, sich nach geläufiger Moral "gut" zu verhalten, aber wenn man seine Werte auch dort konsequent anwendet, wo die Gesellschaft noch blind ist (oder tut), dann ist das keine Selbstverständlichkeit mehr: Verletzt du diese Werte, wirst du nicht sanktioniert, verfolgst du sie konsequent, eckst du an. Das widerspricht unserem Verständnis davon, dass "gutes" Verhalten belohnt und "schlechtes" bestraft werden sollte.

Ich habe nicht umsonst "gut" und "schlecht" in Anführungszeichen gesetzt. Selbst, wenn es eine objektive Moral geben sollte, haben wir dann immerhin noch das Problem, diese zu erkennen. Deswegen baue ich auf nichts weiter auf, als die Werte, die angeblich bereits etabliert sind:

Darf man ohne vernünftigen Grund Schmerzen und Verletzungen zufügen (lassen)?
Darf man ohne vernünftigen Grund die Freiheit derart beschneiden, dass das Objekt des Handelns selbst grundlegende Bedürfnisse nicht mehr ausleben kann?
Darf man ohne vernünftigen Grund eine Tötung in Auftrag geben, deren "sachgemäße" Ausführung regelmäßig versagt?
Darf man dies im Schnitt über tausend mal in seinem Leben tun (Wasserbewohner nicht inbegriffen)?
Darf man ohne vernünftigen Grund die Umwelt so stark belasten, dass künftige Generationen den Preis zu zahlen haben?
Darf man Menschen hungern lassen, während man sein "Steak" von den Feldern dieser Welt füttern lässt?

Ist Geschmack und Gewohnheit ein vernünftiger Grund?

Der Grund, warum eine solche Konfrontation unbeliebt ist, ist nicht der, dass sich der Konfrontierende besser fühlt: Ganz im Gegenteil fühlt man sich nach einem Schuldeingeständnis schließlich schlechter!
Der Grund, warum die obigen Fragen vermutlich anstößig wirken ist, weil der Leser die Antwort kennt. Die wenigen, die überzeugt "Ja" antworten würden, sind doch schließlich fein raus. Sie werden doch aktuell von der Gesellschaft sogar belohnt: All die sozialen Rituale, die sich um den Fleischverzehr ranken, die Assoziationen mit Wohlstand und Männlichkeit, das Ansehen, das der Fleisch servierende Gastgeber genießt...
Anstößig sind die Fragen nur für den, der die Fragen mit "nein" beantwortet, aber das Nein nicht in sein tägliches Handeln integriert.

Ich selbst habe nun über 28 Jahre diese Privilegien der Omnivoren (Fleischesser, bzw. "Mischköstler") genossen. Ich habe den Veganismus für radikal gehalten und habe mich dann darauf ausgeruht, dass ich meine Ansprüche an mich selbst halt "eh nie" erfüllen kann.

Und in diesem Punkt habe ich mich mächtig geirrt!
Veganismus schließt nur eine Hand voll Zutaten aus. Zutaten, die zwar beinahe allgegenwärtig sind, weswegen man durchaus umlernen muss, aber die insgesamt nur einen sehr kleinen Teil unseres Nahrungsspektrums ausmachen. Tatsächlich stehen die Chancen nicht schlecht, dass ich jetzt endlich die Vielfalt pflanzlicher Nahrungsmittel begreifen werde, da ich genau die nun zum Protagonisten auf meinem Teller mache!
Wie man diese schwindelerregende Masse an pflanzlichen Produkten als "Beilagen" zusammen fassen kann, während wir für die immer gleichen Fleischsorten nicht aufhören können zu differenzieren, wirkt beinahe schon symptomatisch. (Laut Wikipedia sind in Deutschland über 1.500 Wurststorten bekannt!) Ist das nicht irgendwie, als würde man einen Regenbogen einfach "bunt" nennen, aber hätte tausende Worte für Grauabstufungen?

Ich habe es jedenfalls probiert. Seit drei Wochen lebe ich "zunehmend veganer". Und es fällt mir nicht schwer, weil ich die oben genannten Fragen endlich mit meiner Nahrung verknüpfen und somit das "Nein" in mein Handeln hinein tragen konnte.
Es geht. Und es fühlt sich kein bisschen radikal an.


Buchtipp: "Tiere essen" von Jonathan Safran Foer

1 Kommentar:

  1. Um das ganze nochmal mehr zu unterstreichen: Fleisch (bzw allgemein vermutlich viele Tierprodukte) lässt sich auch als generell gemüseaversive Person gut streichen.

    Auf Englisch ist das fast ein wenig wortspielerisch: I'm a vegetarian who dislikes veggies.

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